Resümé nach zwei Jahren

Heute ist ein Tag, an den ich unter normalen Umständen Laufen gegangen wäre. Ich erinnere mich an die Wege im Wald, wo ich über Baumstämme, Pfützen und Nacktschnecken gesprungen bin, an das Geruch von Moos und Laub, an die Rehe die ich manchmal begegnet bin, die dann scheu die Weite gesucht haben. An die Äste, denen ich ausgewichen bin, die Spaziergänger mit Hunden die ich manchmal begegnet bin, manchmal hatte ich meinen Patenhund Paula dabei, der beste Hund den es je gegeben hat. Sie ist in den Monat verstorben wo ich meine Diagnose bekommen habe. 

Ich sehe jetzt aus dem Fenster, sehe Jogger die am Fluss entlang laufen, und ich beneide die. Ich gehe jetzt nicht mehr laufen, nicht die 12 Kilometer in einer Stunde, wie einst machen mich stolz, sondern dass ich in den Keller schaffe zu der Waschmaschine, und in der Lage bin meine eigene Wäsche zu waschen…

Meine Diagnose ist jetzt zwei Jahre und zwei Monate alt. Viel ist in dieser Zeit passiert. Ist es leichter geworden?

Ich bin jetzt 500 Kilometer weit weg von meinem ehemaligen Zuhause und von meinen Freunden. Ob ich meine Geburtsort und meinen alten Vater je wieder sehe, ist fraglich. Corona macht das zusätzlich schwieriger.

Erst war die Diagnose da, Schock ohne Ende. Dann die Verschlechterung, und dass ich eins nach dem anderen alles verloren habe, was mich ausgemacht hat. Erst der Mann auf meiner Seite war weg, dann Job weg, Auto weg, Fahrrad weg, Wohnung weg, Highheels weg, Surfequipment weg, viele Freunde und Familienmitglieder weg, meine Haare weg… Mein Schlüsselbund wurde immer kleiner, der Kreis der Menschen um mich auch. Jeder Verlust hat mich geschafft, statt Job und Karriere kam die Rente. Ich habe den Fehler gemacht in eine Wohngruppe zu ziehen, die überhaupt nicht das war was mir gut getan hat, wofür ich meine Wohnung, meine Heimat und meine Freunde verlassen habe. Inzwischen habe ich eine andere Wohnung und eine Menge neue wunderbare Menschen, die inzwischen auch Freunde geworden sind und mir wahnsinnig toll helfen, und unterstützen. Ich habe viel Zeit verloren, meine womöglich letzte einigermassen mobile Monate. Aber wichtig ist es, weiter zu machen – und auch wenn ich jetzt nicht laufen gehe, freue mich drüber, meine Wäsche selber waschen zu können.

Wenn ich aus dem Fenster sehe, die Jogger, Radfahrer und die ersten Cabriofahrer, die die ersten Sonnenstrahlen nutzen, wird mir wehmütig ums Herz. Ohne dich. Denke ich nur.

Viele Dinge sind schlechter geworden. Gleichgewicht. Und Gang. Vor zwei Jahren (auch vor einem) konnte ich mich noch ins Supermarkt schmuggeln und mit Einkaufswagen hat man mir fast nicht angesehen, das ich was habe. Jetzt kann ich mich draussen nur mit Hilfe bewegen, mit einem Stock und nur wenn ich jemanden zum einhaken habe, oder mit dem Rollator (der für mich der Sinnbild vom Untergang ist). Ich weiss garnicht wie weit ich überhaupt noch gehen kann, ein paar hundert Meter? Blutdruckschwankungen machen vieles unmöglich, die Angst umzukippen ist immer dabei. Die schlechte Energie, morgens nach Zähneputzen, Duschen und Anziehen bin ich schon voll erschöpft. Immerhin bin ich froh, dass ich das alles noch selber schaffe und kein Pflegedienst brauche. Sprache ist viel schlechter, ich bin leiser, langsamer, lalle und stottere. Jede Telefonat macht mir Angst. Immer öfters fragen Menschen nach „wie bitte?“ – was mir immer noch lieber ist, als wenn die mich für Banane oder für betrunken halten. Die schlechte Feinmotorik schafft mich, alles fällt mir aus der Hand, nichts treffe ich, essen mit Messer und Gabel ist eine Herausforderung. Ich trage schon lange statt Kontaktlinsen eine Brille. um meine eigene Augen nicht auszustechen und damit ich kein Vermögen an Kontaktlinsen zerreiße. Ich kleckere, beschmiere alles und verschleisse Unmengen an Klamotten. Ich renne immer gleich auf die Toilette um zu vermeiden dass eine peinliche Unfall passiert. Vor allem das nächtliche und morgendliche Aufsteherei schafft mich. Irgendwo hingehen macht mir Angst, denn ich weiss oft nicht wo die nächste Toilette ist, und in welchem Zustand er ist. 

Aber die Symptome sind eine Sache, Veränderungen verbucht man, und man hofft dass es doch noch besser wird, oder man lernt damit umzugehen. Das andere ist das psychische. Ja, nach zwei Jahren heule ich nicht mehr jeden Tag und vieles nehme ich stoisch und pragmatisch, ich lerne Hilfe anzunehmen und nach Hilfe zu fragen. Leichter ist es trotzdem nicht geworden. Gewöhnen tut man sich an das ganze trotzdem nicht. Ja, ich heule nicht jeden Tag, ich könnte aber immer. Es ist eher ein stilles, innerliches Weinen, ohne Tränen, was daraus geworden ist. Inzwischen weiss ich dass man vor dem Heulen nur Kopfweh bekommt, versuche es also zu vermeiden. Aber die Gedanken an vieles aus meiner Vergangenheit könnten mich sekundenschnell zum heulen bringen.

Was ich bemerkenswert finde, sind die Erinnerungen. Ich erinnere mich an Details, das glaubt man gar nicht. Vor allem vor dem Einschlafen und nach dem Aufwachen ist dieses „Schwelgen in Erinnerungen“ sehr intensiv. Manchmal so sehr, dass der Rückkehr in die Realität, zur einer richtig schmerzhafte Landung wird. Trotzdem liebe ich diese „Ausflüge“, und ich erinnere mich sehr lebhaft an unbedeutende Einzelheiten. wie jetzt zB. auf an ein Joggen im Wald. Es ist mein Kino geworden.

Was ich für wichtig halte, und was mich funktionieren lässt, ist dass ich mir dieses Schwelgen erlaube, dann bin ich wehmütig und heule manchmal aber dann ist es es Schluss und ich lebe dann meinen Tag. Dann versuche ich nicht zu tief in die Realität einzutauchen, funktioniere pragmatisch und mache eins nach dem anderen. Meine Erfolgserlebnisse sind jetzt anders, ein Stabsaugen, Abspülen oder Wasche waschen ist ein Riesen Erfolg. Ich kümmere mich um Sachen, die mein Zukunft betreffen und vernachlässige ich Sachen die ich nicht beeinflussen kann.

Viele Momente sind frustrierend, man darf dann diese Momente nicht zu sehr an sich heranlassen. Und morgen wieder probieren. Die Liste der Dinge die ich nicht mehr kann ist lang, ich lege mich nur nicht da rein oder nur kurz. Einmal sich reinlegen, kurz und intensiv leiden und dann aufstehen, Krone richten und weitergehen.

4 Antworten auf „Resümé nach zwei Jahren“

  1. Hallo Marta,
    Ein schöner Text, gut geschrieben, treffend und sehr bewegend. Eine Vorschau auf das was bei mir noch kommen wird.

    Ich wollte in Sachen Erkrankung eigentlich „ nur“ das Sinnvolle tun, aber die Erkrankung selber ignorieren. Gelingt während der Woche einigermaßen, da noch durch die Arbeit (dank Corna Homeoffice) und Termine abgelenkt, aber sobald Zeit ist, fängt das Grübeln an, die vielfältigen Symptomen (ich zähle fast 30) fordern immer mehr Aufmerksamkeit.

    Ich wollte es heute auch mit joggen mal wieder probieren. Gaaanz langsamer Altherrentrab. Leider wird die Blase an der Ferse nicht besser. Muss noch damit warten.
    Dafür habe ich zum ersten Mal das Cabrio bewegt, dass mir meine Frau und Kinder zu Weihnachten geschenkt haben, weil ich meine geliebten Oldtimer abgegeben hatte. Voller Erfolg, der Wagen steht wieder beim Händler zur Reparatur. Ich war gedanklich so aufgewühlt dass ich eine Barke auf der Autobahn mitgenommen habe.

    Genieß den Sonntag, jeden einzelnen Sonnenstrahl. Alles Gute

    Frank

    1. Danke Frank, geniesse es solange du nur kannst. Für mich war die Rente, das nicht mehr Auto fahren und der Verlust meine Highheels am schlimmsten….

      1. Das kann ich gut verstehen. Meine Anzüge, Schuhe und Hemden mit Umschlagmanschetten hängen im Schrank als würden sie gleich gebraucht. Im letzten Moment vorm Lockdown habe ich noch 2 Anzüge gekauft. Deutlich nach der Diagnose. Es fühlte sich so gut, so normal an. Trage ich halt privat.

        Vor 10 Jahren habe meine damalige Frau kurz vor Ihrem Krebstod noch beim Schuhekauf begleitet. Es hat Ihr viel bedeutet, auch wenn Sie die Schuhe nie getragen hat..

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