Anfangen mit Aufhören?

Wir stehen im Büro meines Bruders vor dem großen, vollgestopften Schrank, in dem seit Jahren Dinge lagern und verstauben. Da gibt es Aktenordner, die noch von unserem 1991 verstorbenen Vater stammen! Unsere Mutter wünscht sich so lange schon, dass hier endlich mal entrümpelt wird. Hätte mein Bruder längst machen können. Aber als er noch gesund war, hatte er keine Lust.

Jetzt steht er wackelig, von MSA gezeichnet, neben mir. Seine Werkstatt und einen Teil seiner geliebten Oldtimer hat er schon an seine besten Freunde verschenkt. Es ist ihm ein Anliegen selbst zu bestimmen, was mit den Dingen passiert, die ihm wichtig waren.

Ich habe ein paar Müllsäcke mitgebracht und nehme ein Teil nach dem anderen aus den Regalen: 5-bändiger Brockhaus? Kann weg! Alter Bildschirm? Kann weg! Aktenordner? Können weg! Eine Klobrille (man fasst es ja nicht!)? Kann weg! Gerahmte Fotos von uns als Kinder und von unserer Oma? Bleiben! Die alte Schreibmaschine, die Vater über den Krieg gerettet hat? Bleibt. Wir sortieren nicht nur in großer Einigkeit, es tut auch richtig gut! Die Müllsäcke füllen sich, bis es so viele sind, dass nichts mehr in mein Auto passt.

Ich denke an Andreas, der mal gesagt hat, mit der Krankheit muss man irgendwann „anfangen mit Aufhören“.

Ich denke an Michaela, die vor kurzem aus ihrer Wohnung in ein Heim umgezogen ist, weil alleinleben keine Option mehr ist. Die Verkleinerung stellte sie vor die Frage: worauf muss, worauf kann ich verzichten und wovon will ich mich auf keinen Fall trennen? Hat sie es nur als Abschied oder zum Teil auch als Erleichterung empfunden?

Ich denke an Erwin, der seinen Uhrenladen – sein Lebenswerk – aufgeben musste.

Ich denke an Marta, die ihr Fahrrad an eine Freundin verschenkt, ihr Surfequipment verkauft hat. Die sich aber nicht von ihren geliebten Highheels und ihren schicken Partykleidern getrennt hat, weil sie so viele Erinnerungen an ein einst aufregendes Leben damit verband und die Hoffnung, dass sie sie vielleicht doch noch mal tragen wird, weil es vielleicht doch irgendwann ein Medikament gibt…

Der riesige Schrank im Büro meines Bruders hat Lücken bekommen, einige Bretter konnten vom Staub der Zeit befreit werden – aber er ist noch lange nicht leer. Wir haben erst angefangen mit Aufhören – aufhören wahllos alles aufzuheben und das Aussortieren auf später mal irgendwann zu verschieben.

Mit MSA stellt sich plötzlich die Frage: Was ist wirklich wichtig und was kann weg, hat in einem neuen Leben mit der Krankheit keinen Sinn und Platz mehr? Anfangen mit aufhören hat wie alles zwei Seiten: Es ist schwer und es ist befreiend zugleich.

 

Ute Rentmeister

4 Antworten auf „Anfangen mit Aufhören?“

  1. Hallo Ute,
    Genau vor dieser Frage stehe ich auch, im übertragenen Sinn, auf die Menschen in meinem Umfeld bezogen.
    Manche habe ich schon „aussortiert“, weil sie mir nicht gut tun, und ich für die restliche Zeit, die mir noch bleibt, mir vorgenommen habe, mich nur noch mit Menschen zu umgeben die mich so nehmen wie ich bin, mit all meinen Macken und Ecken und Kanten. Bei manchen Menschen bin ich mir noch nicht ganz sicher.,. die kommen in die Ecke “ nochmal drüber schlafen“ .Menschen, vor denen ich mich nicht rechtfertigen muss, wenn ich eine Entscheidung treffe die sie nicht für gut befinden. dürfen bleiben, mit diesen wünsche ich mir viel tiefgehende Qualität Time….
    Auch hier muss man anfangen “ aufzuhören „. Aufzuhören, sich blöde oder dumme Kommentare oder Rstschläge anzuhören, aufzuhören ja zu sagen wenn man eigentlich nein meint.
    Aber auch im materiellen Bereich gab es einige mir sehr liebgewordene Dinge die ich weggezogen habe /weg geben musste. Manche habe ich schon Jahre im Keller liegen ( z.B.meinen Gleitschirm )…den konnte ich bis heute noch nicht weggeben…meine Angelsachen habe ich heute verkauft, mit einem weinenden und einem lachenden Auge.
    Weinend deshalb weil ich leidenschaftlich gerne geangelt habe, lachend weil ich einem Jugendlichen damit eine große Freude bereitet habe ( und weil jetzt im Keller wieder Platz ist).

    Liebe Grüße…auch an deinen Bruder
    Johanna

  2. Liebe Ute !

    Ich antworte für meinen lieben Mann Erwin !
    Wir sortieren auch gerade alles aus . Erst gestern haben wir eine riesige Tasche mit seinen Schuhen aussortiert . Einige auch verkauft , sowie Krawatten und Hemden aus der Zeit , als er noch im Geschäft seine geliebten Uhren verkaufen konnte . Gerade ist der Ski Anzug dran ! Nach einem Sturz vor einigen Jahren hat er mit dem Ski Sport aufgehört . Im Nachhinein glaube ich , dass es schon ein Vorbote der MSA war . Denn als wir 1 Jahr später lieber Langlaufen wollten , passierte auch gleich ein mega Sturz . So hörte er komplett damit auf .
    In Bezug auf Menschen in unserem Umfeld , hat sich auch einiges verändert . Da kann ich mich nur Johannas Worten anschließen !!!!
    Was mich allerdings sehr berührt , dass wir ganz viele neue Menschen kennengelernt haben , die ihr Herz für uns geöffnet haben . Wir wissen , wem wir vertrauen können !
    Ja , so wird weiter sortiert und entrümpelt . Platz geschaffen für Dinge die wir in Zukunft benötigen werden .
    Und manchmal wandert doch ein Teil wieder in den Schrank zurück …….

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